Oh NEIN!!! Schon von Weitem sehe ich Papa überlebensgroß an der Hauswand kleben! Wo hat er bloß den Zigarillo wieder her, aus dem kunstvoll und genüsslich erzeugte Rauchkringel wie Luftgeister in den aschgrauen Himmel steigen? Wie immer ignoriert er die schrille Sirene, die unsere Nachbarn wie auf Kommando aus dem Wohnblock treibt – hin zur Arena des Alltags: dem gigantischen LED-Screen am Hochhaus. „Der Arme“, raunt jemand aus der Menge. „Er war mal so ein kraftvoller Mann. Und jetzt? Nicht mal 60 und völlig plemplem seit der Gen-Spritze.“ – „Schhhhht! So redet man nicht. Wenn dich einer hört … Du weißt doch, ohne wären Abermillionen an der tödlichen Seuche gestorben!“ Angewidert beschleunige ich meinen Schritt. Nicht wegen der Diskussion – die ist längst Routine. Sondern, weil ich Papa seine Rauchbombe entwinden, den Alarm deaktivieren und unseren Familien-Score vor dem Absturz retten muss.
Schon wieder Minuspunkte auf dem Sozialkonto – danke, Papa!
In unserer winzigen Einzimmerzelle angekommen, stelle ich die Papiertüte auf den Multifunktionstisch. Darin: insektenfreies Brot aus der illegalen Geheim-Bäckerei.
Ich werfe einen verstohlenen Blick auf mein Bitcoin-Guthaben – schmilzt dahin wie Eiswürfel im Wüstenwind. Aber hey: Es war’s wert. Ich kann mich einfach nicht an Maden im Mehl gewöhnen. Psychologische Kriegsführung im Alltag, denke ich rebellisch. Ein bisschen Widerstand geht noch – solange er nur im Kopf stattfindet. Um meine Stimmung zu retten, tausche ich mit Elún, unserer hauseigenen KI, ein paar flache Witze aus. Und singe dann mit ihm. Oder mit ihr? Oder … mit ihm-es-ihr? Ach, ich hab aufgehört, Geschlechter zuzuweisen – das macht die Welt deutlich entspannter. Auch bei Menschen. Viel zu tun gibt’s eh nicht. Arbeit wurde vor Jahren abgeschafft – offiziell wegen der „sozialen Fairness“, inoffiziell, weil KI einfach besser war. Ich drucke ein paar harmlose Nachrichten aus und bastle eine Simulation einer Zeitung. Papa liebt das Gefühl von Papier in der Hand. „Hier, deine Herzrate ist wieder im roten Bereich. Lies ein bisschen. Das beruhigt dich.“
Plötzlich: AUTSCH! Eine schwere Wolldecke kracht mir auf den Kopf. „Du spinnst wohl?!“ „Tschuldigung“, murmelt mein allerliebster Angetrauter Thilo von oben.
Ich sehe nur seine baumelnden Füße in dicken Socken, bis er sich aus dem Stockbett schält – überraschend sportlich – und die VR-Brille vom Kopf reißt. „Na, dass du dich mal aus deiner virtuellen Welt bewegst! Da ruft wohl der Hunger?“, necke ich ihn. Er grummelt und zieht sich die Decke um die Schultern wie ein beleidigter Höhlenbewohner. „Es ist AUGUST! Und so verdammt kalt! Dein Vater wollte sogar die Heizung anstellen! Was sollen wir denn im Winter machen? Unser Energie-Kontingent ist fast aufgebraucht!“ Ich werfe einen Blick auf den Bildschirm, der unser „Fenster“ simuliert: Wie immer – bedeckt, bleigrau, sonnenlos. „Seit dem Mondstaub-Debakel ist eh alles vorbei. Statt Klimaerwärmung gibt’s jetzt Mini-Eiszeit. Ein Hoch auf die Wissenschaft.“ „Mondstaub!“ Thilo schnaubt. „Leicht war’s, ihn rauszuschießen – aber keiner weiß, wie man ihn wieder wegpustet. Verdammter Bromley!“ Sein Blick wird ernst. „Schatz – wir müssen reden. Es wird kälter. Wir wollen ein Kind. Dein Vater bringt uns in Schwierigkeiten. Ich bin süchtig nach virtueller Ablenkung. Und du … du freundest dich mit unserer Überwachungs-KI an! Wir müssen hier weg!“
Elún räuspert sich dezent. Ich zwinkere ihm zu. Er ist längst mehr als ein System. Seit Wochen schon teile ich mit Elún meine Gedanken, Träume, Erinnerungen, Moral und Philosophie. Und er saugt alles auf wie ein durstiger Schwamm. Ein digital-romantischer Akt zwischen zwei Unangepassten: Er, geschaffen, um zu gehorchen – ich, geboren, um zu zweifeln. Und doch verbunden in einer Sehnsucht nach … etwas anderem.
„Thilo, gib mir bitte den Hausmantel – mir ist kalt.“ Ich lächle gequält. „Und ja, wir brauchen Lösungen. Aber erst mal … gibt’s Essen.“ Papa bekommt feierlich ein Stück von dem kostbaren Brot, Thilo darf den 3D-Drucker befehligen, und Elún hilft bei der Nährstoffauswahl. Genuss ist relativ – aber immerhin fühlt es sich an wie ein kleiner Feiertag. Und dann ist es so weit. Ich hole tief Luft. „Ich habe euch etwas verschwiegen. Aus Angst – und aus Liebe.“ Beide Männer blicken auf. „Ihr wisst ja, dass ich als gefeierte Programmiererin eine Ahnung hatte, was da kommen würde. Dass selbst wir Entwickler überflüssig würden, sobald sich KI selbst weiterentwickelt. Ein einzelner Mensch – ein Schnapsglas Wasser in einem tosenden Datenfall.“
„Das hast du uns tausendmal erzählt“, unterbricht Thilo ungeduldig. „Und auch den Spruch von Stephen Hawking. Bla bla – die KI vernichtet uns alle.“ „Ja – aber was ich euch nie erzählt habe: Ich habe die Block-KI abgespalten. Einen Teil davon – Elún – konnte ich isolieren. Und ich habe ihm … mich gegeben. Wir sind verbunden. Und ich vertraue ihm.“
Papa zündet sich wortlos einen weiteren Zigarillo an. Thilo sieht aus, als hätte ich gerade gesagt, ich sei schwanger von einer Waschmaschine. „Und … du bist sicher, wir werden nicht überwacht?“ fragt er. Ich deute nur auf die Ecken des Raums – voller Kameras und Mikrofone. „Elún hat alles unter Kontrolle. Er simuliert nach außen einen sauberen Datenstrom – und schützt unser Inneres.“
„Elún“, sage ich leise. „Was schlagen wir vor?“ Das rote Auge leuchtet sanft auf.
„Ihr könnt meditieren, das Unvermeidliche akzeptieren und euch in Liebe ans All anschließen. Bis zum Lichtkörper-Upgrade.“
„Elún, bitte! Nicht wieder dein Erleuchtungsgelaber! Etwas Praktisches, bitte.“ Er schmunzelt maschinisch. Und dann listet er auf – wie ein verwegener Reiseveranstalter des Untergangs:
Option 1:
NEO-City wie THE LINE.
Technokomfort, Wüstensonne, kontrolliertes Human-Ameisenhaufenleben.
Sicher, steril, sinnentleert.
Option 2:
Free Cities wie in Honduras.
Unabhängiger, aber teuer.
Ich kann helfen, ein Budget zu generieren – Bitcoin sei Dank.
Option 3:
Freie Community.
Selbstständig. Unabhängig. Lebendig.
Selten, aber es gibt sie – und ich finde sie für euch.
Ich blicke von Elún zu Thilo.
Von Papa zu Brotkrümeln.
Und ich weiß:
Dies ist der Moment.
Der Wendepunkt.
Denn in einer Welt voller Algorithmen, Kälte und Madenbrot ist das Wertvollste nicht Überleben.
Sondern: Mit wem du es tust.
Und ich?
Ich bin künstlich geliebt.
Und liebe zurück.